Die Logik des menschlichen Handelns: Praxeologie

Die Ökonomen der Österreichischen Schule (auch Österreichische Ökonomen oder kurz „Austrians“ genannt) betrachten die Wirtschaftswissenschaft als einen Teilbereich der Wissenschaft des menschlichen Handelns, genannt Praxeologie. Dies ist eine a priori/deduktive Wissenschaft. A priori heißt so viel wie erfahrungsunabhängig oder aus der reinen Vernunft durch logisches Schließen gewonnen, deduktiv bedeutet herleitend oder logisch schlussfolgernd. Das heißt, Österreichische Ökonomen leiten Gesetzmäßigkeiten nicht ab, indem sie in die Welt hinaus gehen und dort Hypothesen aufstellen und Experimente durchführen. Ihre Vorgehensweise ähnelt vielmehr der der Mathematiker: Ausgehend von Axiomen, also von Grundsätzen, die nicht abgeleitet, sondern vorausgesetzt werden, werden durch logische Schlüsse neue Erkenntnisse gewonnen. Wenn die Axiome wahr sind und in der Herleitung kein Fehler unterlaufen ist, müssen die Erkenntnisse zwangsläufig ebenfalls wahr sein, sie müssen also nicht erst durch Experimente oder Messungen bestätigt werden. Um das mal an einem Beispiel aus der Mathematik deutlich zu machen: Der Satz des Pythagoras besagt, dass für ein beliebiges rechtwinkliges Dreieck, dessen Längen der beiden kürzeren Seiten wir mit a und b und die der längsten Seite mit c bezeichnen, a2+b2=c2 gilt. Dieser Satz wurde durch logische Schlüsse hergeleitet und es wäre unsinnig, ihn empirisch überprüfen zu wollen – man könnte ihn auf diese Weise nie mit 100%iger Sicherheit als wahr erklären, da es unendlich viele rechtwinklige Dreiecke gibt, man also nie alle untersuchen kann, und weil wir die Seitenlängen gar nicht genau genug messen können, um ihn in dieser Exaktheit nachzuvollziehen. Auch die Erkenntnisse der Österreichischen Schule werden durch Logik gewonnen und müssen daher nicht empirisch überprüft werden, um als wahr zu gelten. Es wäre dennoch voreilig zu behaupten, Ereignisse aus der realen Welt hätten keine Relevanz für die Austrians. Im Gegenteil, viele von ihnen waren und sind sehr an der Geschichte interessiert. Sie vertreten jedoch die Auffassung, dass man erst einmal eine Theorie braucht, um die Geschichte interpretieren zu können, und dass man allein aus der Geschichte keine allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten ableiten kann.

Schauen wir uns einmal die Grundlage der Praxeologie an. Wie bereits erwähnt, ist die Praxeologie die Wissenschaft des menschlichen Handelns. Sie beruht auf dem fundamentalen Axiom, dass Menschen handeln. In diesem Kontext heißt „Handeln“ so viel wie bewusstes oder zielgerichtetes Verhalten. Handeln kann sowohl ein Tun, als auch ein Dulden oder Unterlassen sein. Es ist aber klar von Reflexen zu unterscheiden. Wenn ich mein Essen mit Pfeffer würze, dann ist das eine Handlung, wenn ich jedoch diesen Pfeffer in meine Nase bekomme und deshalb niesen muss, dann ist das ein Reflex und keine Handlung. Bei der Handlung habe ich eine Wahl, beim Reflex nicht. Die Aussage, dass Menschen handeln, klingt wahrscheinlich für die meisten ziemlich offensichtlich und das ist auch gut so, denn ein Axiom ist schließlich ein unmittelbar einleuchtendes Prinzip. Niemand kann von sich selbst behaupten, nicht zu handeln, denn sobald er das tut, handelt er und widerspricht sich damit selbst. So trivial der Akt des menschlichen Handelns scheint, es gibt vieles, was wir daraus ableiten können, zum Beispiel:

  • Wenn ein Mensch handelt, dann versucht er, dadurch ein Ziel zu erreichen. Er zielt auf einen Zustand ab, den er als besser empfindet als den Zustand, der eintreten würde, wenn er anders handeln würde. Ebenso, wie man nicht verneinen kann zu handeln, ohne dabei zu handeln, kann man auch nicht verneinen, dass Handeln zielbezogen ist, ohne dass man dabei selbst ein Ziel verfolgt. Welche Ziele es sind, die angestrebt werden, darüber können wir keine Aussage treffen, nur, dass der jeweilige Handelnde ihnen einen Wert beimisst.
  • Handeln erfordert den Einsatz von Mitteln. Zum Beispiel benötigt jede Handlung Zeit. Wir können uns kein zeitloses Handeln vorstellen, denn wenn Handeln zeitlos wäre, wären die Ziele schon sofort und unmittelbar erreicht, was wiederum bedeuten würde, dass nicht gehandelt werden würde – das stellt einen Widerspruch dar.
  • Wenn man sich für eine bestimmte Handlung entscheidet, entscheidet man sich gleichzeitig gegen andere mögliche Handlungen. Jedes Handeln ist daher mit Kosten, sogenannten Opportunitätskosten, verbunden, das ist der entgangene Nutzen der Handlungsalternativen, gegen die sich der Handelnde zugunsten der gewählten Handlung entschieden hat.
  • Handeln setzt Kausalität voraus. Wenn nichts was geschieht eine Ursache hätte und nichts, das man tun könnte, eine Wirkung hätte, dann könnte nicht gehandelt werden, denn egal wie man handeln würden, Handeln könnte einen nicht an sein Ziel bringen. Das muss nicht heißen, dass der jeweilige Handelnde die Ursache-Wirkungs-Beziehungen richtig erfasst, er kann sich auch durchaus täuschen. Die Praxeologie geht nicht davon aus, dass Menschen bei der Wahl ihrer Mittel keine Fehler machen und sich immer klug verhalten und nie irren. Wenn zum Beispiel jemand einen Regentanz aufführt, um Regen herbeizuführen, dann geht er davon aus, dass es eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen dem Tanz und dem Regen geben könnte. Auch wenn wir es besser wissen, es kommt in dem Fall nur darauf an, dass der Handelnde glaubt, seine Mittel könnten ihn an sein Ziel bringen.
  • Menschliches Handeln findet unter Unsicherheit statt, denn wenn es keine Unsicherheit gäbe, wüsste der Handelnde schon, was in Zukunft alles geschieht. Damit wäre seine Zukunft vorherbestimmt, er könnte nicht handeln, um sie zu ändern.

Das waren nun ein paar Beispiele dafür, was sich aus dem Konzept des menschlichen Handelns schließen lässt. Wie geht es damit weiter? Mit dem Wissen über menschliche Handlungen ausgestattet, beginnen Österreichische Ökonomen nun, sich reale Gegebenheiten anzusehen. Sie ziehen einige relevante Sachverhalte aus der Realität und leiten daraus unter Zuhilfenahme der Theorie des menschlichen Handelns erste ökonomische Gesetze ab, die es wiederum erlauben, die Realität noch tiefgehender zu untersuchen. Solche Sachverhalte können zum Beispiel die ganz einfachen Tatsachen sein, dass es mehr als einen Menschen und mehr als ein Gut gibt und dass verschiedene Menschen unterschiedliche subjektive Wertvorstellungen haben. Daraus kann man mittels des Wissens über menschliche Handlungen schlussfolgern, dass wenn zwei Menschen freiwillig tauschen, beide glauben, dass sie von dem Tausch profitieren – denn der Tausch stellt eine Handlung dar, das heißt, jeder der Tauschenden empfindet den Zustand nach dem Tausch als zufriedenstellender als den Zustand, der ohne den Tausch eingetreten wäre.
Dieser Vorgang, also das Folgern ökonomischer Gesetze aus realen Sachverhalten mithilfe der vorher gewonnenen Theorie, kann immer und immer wieder wiederholt werden, jedes Mal steht den Ökonomen mehr Theorie zur Verfügung, die sie für eine noch bessere Interpretation der Realität verwenden können. Dabei geht niemals die Verbindung zum menschlichen Handeln verloren. Es ist auch möglich, mit dieser Vorgehensweise Annahmen zu untersuchen, die nicht oder noch nicht der Realität entsprechen, zum Beispiel was wäre, wenn es eine einheitliche Weltwährung mit einer Weltzentralbank gäbe.

Die ökonomischen Gesetze lassen sich in zwei Kategorien einteilen: exakte Gesetze und Tendenzgesetze. Exakte Gesetze gelten immer und werden nie von anderen Einflüssen überlagert, man kann sie also stets in der Realität beobachten. Beispiele hierfür wären, dass jede Handlung einen Anfang und ein Ende hat, oder, etwas weniger offensichtlich, dass Wirtschaftsrechnung unmöglich ist, wenn es kein Privateigentum an Produktionsfaktoren gibt.
Die Tendenzgesetze enthalten die Prämisse „wenn alles andere gleich bleibt“. In der Realität können diese Gesetzmäßigkeiten von anderen Effekten überlagert werden, weil eben nicht alle anderen Faktoren konstant bleiben. Ein Tendenzgesetz ist zum Beispiel die Aussage, dass unter sonst gleichen Umständen eine Erhöhung der Geldmenge eine Erhöhung der Preise nach sich zieht. Dieser Effekt kann aber unter anderem durch eine erhöhte Produktivität verschleiert werden.

Die Methode der Österreichischen Schule beruht auf drei Prinzipien: Zum einen wäre da der methodologische Individualismus, was bedeutet, dass nie die Verbindung zum Handeln des Einzelnen verloren geht. Denn auch um das Verhalten von Gruppen erklären zu können, muss man das Verhalten der Individuen, die Teil dieser Gruppe sind, verstehen. Gruppen können nicht fühlen, denken, wertschätzen oder handeln, nur Individuen können das.
Das zweite dieser Prinzipien ist der methodologische Singularismus, der besagt, dass die einzelne Handlung im Fokus steht. Einzelne Handlungen sind in ihrer unmittelbaren Tragweite scharf begrenzt, Verallgemeinerungen führen daher häufig zu Problemen. Zum Beispiel galt lange Zeit das Diamanten-Wasser-Paradoxon als ungelöst: Wasser ist lebensnotwendig, Diamanten nicht, trotzdem haben Diamanten einen sehr hohen Preis und Wasser ist meist sehr günstig. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich nicht auflösen, wenn man in zu allgemeinen Kategorien denkt. Es wird nie zwischen „Wasser“ und „Diamanten“ im Allgemeinen gewählt, sondern immer nur in einer einzelnen Handlung zwischen einer bestimmten Menge Wasser und einer bestimmten Menge Diamanten. Auch das werde ich in einer späteren Folge ausführlicher behandeln, wenn wir über Nutzen und Werte sprechen.
Dann wäre da noch der sogenannte methodologischen Subjektivismus, was heißt, dass nicht über die Ziele der Handelnden geurteilt wird, sie werden vielmehr als gegeben hingenommen. Die Praxeologie ist wertfrei, sie schreibt nicht vor, welche Ziele angestrebt werden sollen, sie beantwortet nur die Frage, welche Mittel geeignet sind, um ein gegebenes Ziel zu erreichen. Die Österreichische Schule ist daher keine Ideologie und sollte nicht mit dem Libertarismus verwechselt werden, denn der ist eine politische Philosophie.

Abschließend soll es um die Frage gehen, warum die Österreichischen Ökonomen es ablehnen, die naturwissenschaftlichen Methoden in der Ökonomie anzuwenden. Ohne an dieser Stelle zu sehr ins Detail zu gehen lässt sich sagen, dass die naturwissenschaftlichen Methoden im Wesentlichen darin bestehen, Hypothesen aufzustellen und deren Wahrheitsgehalt durch systematische Beobachtung oder Experimente zu überprüfen. Diese Vorgehensweise hat längst Einzug in die moderne Volkswirtschaftslehre gehalten. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Naturwissenschaften und Volkswirtschaftslehre: In den Naturwissenschaften lassen sich Experimente beliebig oft unter gleichen Bedingungen wiederholen, man erhält dabei immer das gleiche Ergebnis. Es gibt also konstante Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die dazu führen, dass die Experimente beliebig reproduzierbar sind. Das ist im Bereich der menschlichen Handlung nicht der Fall. Unterschiedliche Menschen reagieren verschieden auf dieselben Einflussfaktoren, und auch der einzelne Mensch unterliegt mitsamt seinen Zielen und Präferenzen ständigem Wandel, denn wir Menschen sind lernfähig. Würde man diese Lernfähigkeit bestreiten und dennoch empirisch forschen wollen, so steht man mit sich selbst im Widerspruch, denn man erwartet ja, durch die Forschung etwas zu lernen. Die konstanten Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die zum Erfolg der naturwissenschaftlichen Methode in den Naturwissenschaften führen, fehlen also im menschlichen Handeln. Weiterhin lassen sich wirtschaftliche Experimente nicht unter „Laborbedingungen“ durchführen, wie es den Naturwissenschaften möglich ist. Würde man die Tendenzgesetze in der Praxis testen wollen, müsste man alle Einflussfaktoren außer den zu testenden konstant halten, ansonsten könnte es zu überlagernden Effekten kommen, wodurch womöglich falsche Schlussfolgerungen gezogen werden würden. Es ist uns aber nicht möglich, alle Einflussfaktoren zu kontrollieren, schon allein weil wir nur einen Bruchteil davon kennen.
Auch mathematische Modelle sind in der modernen Volkswirtschaftslehre weit verbreitet. Die Österreichische Schule lehnt es allerdings ab, das menschliche Handeln mathematisch zu modellieren oder quantitative Vorhersagen treffen zu wollen. Dafür sehen sie das menschliche Handeln als viel zu komplex an und gehen außerdem davon aus, dass sich so etwas wie Nutzen nicht berechnen und in Zahlen ausdrücken lässt.

Ein kleiner Disclaimer zum Schluss: Natürlich gibt es nie unter allen Anhängern einer Denkschule 100%ige Einigkeit, so eben auch bei der Österreichischen Schule. Das, was ich in diesem Artikel beschrieben habe, ist allerdings das, was im Allgemeinen als die wissenschaftliche Methode der Österreichischen Schule gilt. Wenn du mehr wissen möchtest, empfehle ich dir folgende weiterführende Literatur:

Artikel:

Vorträge:

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